Zwei Generationen, zwei Wirklichkeiten

Von Susanne Krones (Virginia 54/Frühjahr 2014, S. 14) – Manchmal gibt es solche Momente im Alltag: Man versteht plötzlich, wovor man lange wie vor einem Rätsel stand, man ist zum ersten Mal ehrlich zu sich selbst in einer Frage, die man für längst beantwortet hielt. Meistens passiert das, wenn man den Standpunkt wechselt und zulässt, dass eine andere Wirklichkeit die eigene kreuzt. Gespräche zwischen Enkeln und Großeltern sind ein Möglichkeitsraum für solche Momente.

Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren hat die Journalistin Jana Simon Gespräche mit ihren Großeltern Christa und Gerhard Wolf aufgezeichnet. Als die Gespräche im Sommer 1998 begannen, war Jana Simon gerade erst dabei, Journalistin zu werden. Ein familiäres Projekt sollte es werden, bis beide Seiten merkten, wie relevant die Themen waren und wie sie sich unter dem neuen Blickwinkel eines Dialogs der Generationen veränderten: das politische Engagement der Wolfs und ihre Kämpfe in zwei Diktaturen, die in ihrer Existenzialität für die Enkelin kaum zu begreifen sind, die mehr als sechzig Jahre andauernde Liebe des Ehepaars, das neue Leben im vereinigten Deutschland.

Die Gespräche gewinnen ihren Reiz dadurch, dass einerseits ein großes Vertrauen spürbar ist, andererseits aber die Kluft zwischen den Generationen immer wieder zum Perspektivenwechsel zwingt. Berührend ist die Dynamik der Dreiergespräche: »Wusstest du zu dieser Zeit, dass es Konzentrationslager gab?«, fragt die Enkelin den Großvater über die frühen Jahre des Dritten Reichs. Der schweigt, weicht aus: »Das ist sehr schwer zu beantworten. Da müsste ich sehr genau überlegen. Gesprochen wurde darüber sicher kaum«, während die Großmutter ihm ins Wort fällt: »Ich wusste es. (…) Es muss 1935 oder 1936 gewesen sein, dass ich das erste Mal dieses Wort hörte. (…) Das merkte ich mir, weil es von einem Geheimnis umgeben war und von etwas sehr Ungutem. Man spürte es daran, wie leise die Erwachsenen darüber sprachen (…) Dass es KZs gab, das wusste man.«

Berührend sind die existentiellen Passagen, etwa wenn Christa Wolf ihrer Enkelin von ihrer Flucht aus Landsberg erzählt, die sie in jedem Detail gespeichert zu haben scheint: Sie, als Kind, oben auf dem Trecker, unten die Mutter, die sagt, sie bleibe hier, um das Haus für den Vater zu beschützen: »Ich fuhr aus der Stadt hinaus und hatte zwei Gedanken: Meine Heimat ist verloren, da komme ich nie wieder hin, und meine Mutter ist verloren, die sehe ich nie wieder.« Wolf sollte sie wiederfinden, zwei Wochen später in Wittenberg an der Elbe, wo die Familie inzwischen in einem Klassenzimmer einquartiert war. Immer wieder mischen sich die Episoden aus Kindheit und Jugend der Großeltern mit denen ihres Kennenlernens, der Familiengründung und den folgenden Jahren, in denen Christa Wolf mit ihren Romanen, Erzählungen und Essays Literaturgeschichte schrieb.

Am berührendsten sind die Gespräche dort, wo ein Verstehen zwischen Großeltern und Enkelin unmöglich ist, etwa, wenn es um die Opferakte der Wolfs geht, in der in mehreren Dutzend Bänden minutiös das Familienleben protokolliert ist. Bezogen auf Thomas Nicolaou, einen Stasi-Spitzel im engsten persönlichen Umfeld der Wolfs, muss die fassungslose Enkelin mehrmals fragen, ob dessen Verrat die Großeltern schockiert habe. Jana Simons »Aber das ist doch totaler Verrat!« stellt Christa Wolf ein »Nein, das ist Schizophrenie.« entgegen. »Meinst du, er ist krank?« – »Nein. Das ist die Krankheit dieses Jahrhunderts.« – »Für mich ist das Verrat!« – »Gut, bleib dabei. Ich kann das nicht so sehen.« Gerhard Wolf ergreift Partei für seine Frau. Verrat? »Das ist zu simpel.« Die Behauptung ihrer Großeltern, es wäre ein schizophrenes Jahrhundert, kann die Enkelin nur als Schutzbehauptung verstehen.

Jana Simons Buch ist voller spannender Fakten, etwa wenn Christa Wolf ihre Verlagsbeziehungen zum Aufbau Verlag in der DDR und zum bundesdeutschen Luchterhand Verlag beschreibt, die Zensur, ihr Gespräch mit Honecker nach der Biermann-Ausbürgerung oder das erste gesamtdeutsche Ost-West-Kulturtreffen, bei dem ihr deutlich gemacht wurde, dass nicht ihre Vergangenheit das Problem sei, sondern ihre Aktivitäten in der Gegenwart. Doch den größten Gewinn verspricht das Buch dort, wo die erzählten Fakten Spiegel der Gegenwart werden: Wenn die Großeltern ihre eigene Situation mit der ihrer Enkelin vergleichen. »Als wir Eltern wurden, herrschte Aufbaustimmung. Überall wurden Leute gesucht«, so Gerhard Wolf, dass Christa keine Babypause macht, sei selbstverständlich gewesen. Was die Enkelin nur mit einem »Ihr hattet das tolle Gefühl, gebraucht zu werden!« beantworten kann. Zwei Generationen, zwei Wirklichkeiten. Ein außergewöhnliches Buch.

 

Jana Simon: Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Ullstein 2013. 288 S. € 19,99.

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