Chronik der Zukunft. Swetlana Alexijewitschs »Gespräche mit Lebenden und Toten«

Von Susanne Krones (EMOTION 8/2013, online) –  Als am 26. April 1986 der Himmel über Tschernobyl brannte, verloren die direkt betroffenen Menschen keine Stadt, sondern ein ganzes Leben.

Swetlana Alexijewitsch, 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, hat mit Überlebenden von Tschernobyl gesprochen. Aus ihren Recherchen entstanden berührende literarische Monologe von Liebe, Angst, Verlust und Heimat und vom Leben mit einem Tod, der unsichtbar und unhörbar auch heute noch gegenwärtig ist. Aus einer Auswahl aus diesen Monologen hat Frank Werner ein Hörspiel für vier Einzelstimmen komponiert, das einem ergreifenden Requiem der Klage und Anklage gleicht. Leise Geräusche zwischen den Monologen lassen fühlen, was sich nicht in Worte fassen lässt: brummende Hummeln, die Steigerung ihres Summens von Idylle zu Gefahr. »Erdbeeren waren reif, die Bienenstöcke waren voller Honig. So war die Lage.«

Es ist ein Hörstück geworden, das tief unter die Haut geht. Die 1948 in der Ukraine geborene Swetlana Alexijewitsch wurde schon 1996 vom schwedischen PEN für ihre Dokumentarprosa mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet. Ihre »Gespräche mit Lebenden und Toten« berühren und verstören. Man weiß in jedem Augenblick, dass die Geschichten wahr sind, und muss sich doch vor diesem Wissen schützen. Unfassbar grausam sind die Folgen der falschen und der viel zu spät getroffenen Entscheidungen, der strategischen Vertuschungen und politischen Lügen um die Reaktorkatastrophe.
Erst die distanzierte Sprache, die distanzierte Interpretation der Vortragenden Ilse Strambowski, Peter Gavajda, Viola Morlinghaus und Konstantin Graudus machen den bewegenden, anrührenden Text zugänglich. Der Hörverlag hat gut daran getan, das Hörspiel von 1998 nach der Katastrophe von Fukushima erneut zu veröffentlichen, der abstrakten Gefahr, für die wir alle Verantwortung tragen, ein Gesicht zu geben und uns eine Wahrheit nicht zu ersparen: Alexijewitschs Monologe bilden eine Chronik der Zukunft und »die gerechteste Strafe auf der Welt ist der Tod«.

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