Seiltänzerin ohne Netz

Von Susanne Krones (Virginia 52/Frühjahr 2013, S. 6f.) – Wer Mascha Kaléko im Ohr hat, hört mindestens zwei Stimmen gleichzeitig. So melancholisch manche ihrer Verse sind, so frech sind andere. Niemand hat ihre Janusköpfigkeit treffender ins Wort genommen als sie selbst: »Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete«. Und das wäre, so Kaléko, auch gar nicht anders denkbar: »Denn, was einst war, das stimmt uns meistens lyrisch, / Doch das, was ist, zum großen Teil satirisch«.

Wer Mascha Kaléko noch nicht im Ohr hat, hat bisher viel verpasst: ihr Selbstbewusstsein beispielsweise, von bezaubernder Ironie gedeckelt: Wenn sie sich in einer Postkarte an Christoph Niemöller als »Generalsekretärin der Familie VINAVER« bezeichnet oder über ihren eigenen Stellenwert in der deutschsprachigen Literaturgeschichte schreibt: »Auch ich bin ‚ein deutscher Dichter, / Bekannt im deutschen Land‘, / Und nennt man die zweitbesten Namen, / So wird auch der meine genannt.«

Ihr Name, den sie sich angelegt hat wie ein Kleid: Am 7. Juni 1907 wurde sie als Golda Malka Aufen in der kleinen westgalizischen Stadt Chrzanów, nahe bei Auschwitz, geboren, und seit ihrer Kindheit Mascha genannt. Mascha ist 14, als sie 1922 durch die standesamtliche Trauung ihrer Eltern von Mascha Aufen zu Mascha Engel wird. Weitere sechs Jahre später wird sie den Namen ihres ersten Mannes Saul Kaléko an – mit dem sie noch verheiratet war, als sie von dem Musiker Chemjo Vinaver ein Kind erwartete – und behielt den Namen Kaléko, auch wenn erst ihr zweiter Mann und der gemeinsame Sohn zu ihrer Lebensfamilie wurden. Für die übernahm Kaléko Verantwortung und arbeitete als Werbetexterin und Journalistin in New York, wo sie seit ihrer Emigration im September 1938 lebten. Die Beharrlichkeit, die aus ihrer Korrespondenz mit dem Entschädigungsamt in Berlin spricht, zeigt, mit welchem Selbstbewusstsein und welcher Beharrlichkeit Mascha ihre Interessen vertrat. Den Spitznamen behielt sie, auch nach der Emigration, und sooft die Nachnamen auch wechselten.

Schon ihre frühen Erfolge aus ihrer Berliner Zeit, wo sie zunächst in Zeitungen, dann bei Rowohlt Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935) publizierte, machten Kaléko berühmt und verorteten ihre Lyrik in der Tradition Heinrich Heines und Kurt Tucholskys. Bis 1945 sollte es dauern, bis mit den Versen für Zeitgenossen ein weiteres Buch erscheinen konnte. In brillanten Texten wie dem Gedicht »Emigranten-Monolog« setzte sich Kaléko in ihrem ganz besonderen Ton mit der Situation auseinander: »O Röslein auf der Heide, / dich brach die Kraftdurchfreude«. Brechen lassen hat sie sich nie.

Auch was ihre Karriere im geteilten Nachkriegsdeutschland anging, war Kaléko nie zu Opportunismus bereit: 1959 sollte sie mit dem renommierten Fontane-Preis ausgezeichnet werden, doch sie lehnte ab, hatte sie doch zuvor erfahren, dass der ehemalige SS-Mann Hans Egon Holthusen Mitglied der Jury war. Ihre Gradlinigkeit, nicht nur in dieser Frage, dürfte viel von dem Erfolg gekostet haben, den das furiose Echo nach Erscheinen ihres Lyrikbandes Verse für Zeitgenossen (1958) versprochen hatte.

Nach Deutschland kehrte sie nur als Reisende zurück, die ein Vielzahl von Lesereisen durch ganz Europa führte, und lebte weiter hauptsächlich in New York, bis sie 1962 mit ihrem Ehemann in Jerusalem eine Wohnung bezog. Als sie im Januar 1975 auf einer solchen Reise, in Zürich, nach einer letzten Lesung in der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin im Herbst 1974, starb, hatte sich ihre eigene lyrische Lebensbilanz bereits in zweifachem Sinn nicht erfüllt: »Was wird am Ende von mir übrig bleiben? / Drei schmale Bände und ein einzig Kind / Der Rest, es lohnt sich kaum, es aufzuschreiben. / Was ich zu sagen hab, sag ich dem Wind.« Ihr Sohn war vor ihr gestorben, 1968 mit nur 31 Jahren, als ein vielversprechender junger Musiker. Ihr Werk ist mit drei schmalen Bänden längst nicht zu fassen.

Die von Jutta Rosenkranz herausgegebene Edition macht sämtliche Werke und Briefe Mascha Kalékos erstmals zugänglich. Als Gesamtausgabe in vier Bänden umfasst sie einen Band mit Werken, darunter rund hundert noch unbekannte Gedichte aus dem Nachlass, Entwürfe aus Notizheften, zwei Bände mit rund 1.400 Briefen, die erstmals publiziert Einblicke in das Leben der Lyrikerin geben sowie einen vierten Band mit Kommentaren zu Werken und Briefe, außerdem mit Chronologie, Quellenverzeichnis, editorischen Hinweisen und einem Titelverzeichnis der Publikationen und Nachlassveröffentlichungen.

Rosenkranz, die 2007 zum 100. Geburtstag Kalékos die erste umfassende Biographie der Dichterin vorgelegt hat, macht damit eine der bedeutenden Stimmen der neuen Sachlichkeit erstmals für eine Gesamtwürdigung zugänglich. Beeindruckende Briefwechsel mit Hermann Kesten, Wolfgang Weyrauch, Gottfried Benn, Hilde Domin, Ingeborg Drewitz, Verleger Ernst Rowohlt, Literaturagentin Ruth Liepman und der Zürcher Buchhändlerin Marthe Kauer zeigen Kalékos Vernetzung im Literaturbetrieb. Herausragend die Briefe an ihren literarischen Agenten Felix Guggenheim, die Rosenkranz im Archiv der Lion Feuchtwanger Memorial Library in Los Angeles entdeckte. Publiziert auch Kalékos Werbetexte, die zeigen, das sie ihre virtuose Brillanz auch in Diensten anderer einsetzen konnte, professionell und auf Abruf, und ihre musikalischen Schriften, die belegen, dass sie auch in diesem Genre zu einer der wichtigsten zeitgenössischen Stimmen gehörte.

Wer Mascha Kalékos Zeilen folgt, begeht ein Terrain, der sich quer durch die Sprachen und Mentalitäten spannt. Der große Erfolg ihrer Songs verdankt sich auch der ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit mit Wärme und Melancholie des Ostjudentums. Seile, gespannt über die Kontinente, auf denen sie tanzen kann. Ohne Netz und doppelten Boden. Claire Waldoff und Rosa Va trugen ihre Chansons in Cabarets, nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet. »Ich werde still sein; doch mein Lied geht weiter.« Die Vielzahl der in den beiden Bänden mit gesammelten Briefen edierten Dokumente zeigt Briefseite um Briefseite die Durchdringung ihrer deutschen Muttersprache mit Exilenglisch, Berliner Mundart sowie jiddischen, hebräischen und anderssprachigen Ausdrücken, die nicht immer den Konventionen der jeweiligen Fremdsprachen entsprechen.

Wer sich die verbändige Edition im Deutschen Taschenbuch Verlag vornimmt, entdeckt nicht weniger als: eine Klassikerin der Moderne.

 

Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz. Deutscher Taschenbuch Verlag 2012. 3.752 S. € 78,00. (Leinen € 198,00)

 

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.