Fremd vertraute Geschichtenerzähler

Von Susanne Krones (Kulturelemente Nr. 94/2011, S. 5f.) – Literatur und Film sind zwei einander scheinbar sehr fremde Künste. Obwohl beide Geschichten erzählen, könnte schon ihre Entstehung kaum gegensätzlicher verlaufen: Während der Schriftsteller dem Bild des Künstlers als einsamer Schöpfer zu entsprechen scheint, ist Film gemeinsame Schöpfung par excellence. Buch, Regie, Schauspiel, Schnitt, Licht, Kulissen, Maske und Filmmusik spielen zusammen.

Die Liaison zwischen Buch und Film ist facettenreich: Es gibt verfilmte Literatur ebenso wie Filme über Literatur und ihre Autoren, Filmbücher im Bereich Fiction ebenso wie im Bereich Non-Fiction, Bücher zum Film genauso wie Filme zum Buch. Die klassische Literaturverfilmung reicht dabei von heute bereits mehrfach verfilmten Stoffen wie Thomas Manns Die Buddenbrooks und Theodor Fontanes Effi Briest über populäre Verfilmungen wie Patricia Highsmiths Der talentierte Mr. Ripley, Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und F. Scott Fitzgeralds Der seltsame Fall des Benjamin Button bis hin zu All-Age-Stoffen wie Jostein Gaarders Das Orangenmädchen oder viel diskutierten historisch-politischen Stoffen wie Bernhard Schlinks Der Vorleser. Hinzu kommen die im Gefolge von Kinofilmen konzipierten und produzierten und meist zum Erscheinen der Filme publizierten Bücher zum Film, wie sie etwa Rowohlt zu Dani Levys Mein Führer und Suhrkamp zu Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen vorgelegt haben. Zahlreiche Autorenbiographien rekonstruieren die Entstehungsgeschichte eines literarischen Gesamtwerkes und konstruieren Bilder der dargestellten Autorinnen und Autoren, prototypisch etwa Die Manns oder Bonjour Sagan. Im Bereich Non-Fiction locken außerdem investigative oder rekonstruierende Dokumentarfilme und sie begleitende, meist mit zusätzlichen Dokumenten ausgestattete Sachbücher Kinopublikum und Leser. Solche Sachbücher können ein Filmprojekt begleiten (wie etwa Fred Breinersdorfers Sophie Scholl: Die letzten Tage), aus einem Filmprojekt entstehen (wie etwa Andrea Weiss’ Paris war eine Frau) oder umgekehrt Buchvorlagen für Verfilmungen sein (wie die von Roberto Savianos Bestseller Gomorrha, Jean-Domique Baubys bewegender Biographie Schmetterling und Taucherglocke oder Marjane Satrapis Comic-Verfilmung Persepolis. Eine Kindheit im Iran).

Ebenso vielgestaltig wie das Verhältnis von Buch und Film ist die Rolle von Filmen für Buchverlage: Sie reicht vom Auflagengaranten (wenn eine Literaturverfilmung mit Blockbuster-Qualitäten einen Backlisttitel längerfristig in ungeahnte Auflagenhöhen katapultiert) bis zum Ausgangspunkt für neue Projekte und Akquisitionen (wenn eine verfilmte Biographie es erlaubt, das Werk eines bis dato vergessenen Autors neu aufzulegen oder ein Dokumentarfilm das Interesse an einer bis dato vergessenen Thematik neu weckt). Für Buchverlage ist die Liaison ›Buch und Film‹ immer in zwei Richtungen zu denken: Werden Bücher verfilmt – oft erst viele Jahre oder Jahrzehnte nach dem Erscheinungen der literarischen Vorlage – statt Verlage diese Titel neu aus, verwenden die Plakatmotive der Kinofassung für die Cover oder versehen die ursprüngliche Ausgabe mit Aufklebern, die auf den Film verweisen. Verfilmung gilt als Auszeichnung – dafür, dass dieser Stoff ein großes Publikum erreichen und bewegen kann. Neben diesem klassischen Glücksfall einer Verfilmung eines Buches gibt es für Verlage immer auch den umgekehrten Fall eines Buches zum Film. Das ist ein Marketingphänomen – für Leserinnen und Leser jedenfalls ist Vorsicht geboten, wenn ein Drehbuch nach einem erfolgreichen Kinofilm oder Fernsehformat modifiziert und als Roman veröffentlicht wird. Selten gelingt diese Umarbeitung und selbst, wenn sie handwerklich gut gemacht ist, verlieren Geschichten auf diese Weise oft ihren Zauber.
Im Idealfall entstehen aus der Liaison zwischen Buch und Film zwei eigenständige Kunstwerke, die eine Geschichte auf unterschiedliche Weise erlebbar machen. Denn so, wie Bücher und Filme auf unterschiedliche Weise entstehen – im vergleichsweise einsamen, intimen Schreibprozess oder in der Dynamik und Öffentlichkeit eines Filmsets – werden sie auch auf unterschiedliche Weise rezipiert: Während Printmedien wie das Buch von einem einzelnen Leser gelesen werden, ist Film, insbesondere in der Kinosituation, ein Gemeinschaftserlebnis. Die Frage, ob man mit einem Freund lesen wolle, ließe einen perplex zurück, sie irritiert. Ganz anders als die Frage, ob man ihn ins Kino begleiten würde, die selbstverständlicher Bestandteil unserer Alltagskultur ist. Warum ist es soviel leichter, mit Geliebten, Freunden und Fremden ein Kinoerlebnis zu teilen? Der Grund dafür liegt nicht in den Inhalten, in denen sich ein Roman und seine Verfilmung, ein Dokumentarfilm und eine Zeitungsreportage in weiten Teilen entsprechen können, er liegt tatsächlich im Medium selbst.

Die audiovisuellen Medien geben anders als die Printmedien das Tempo vor. Anders als bei der Lektüre entstehen die Bilder nicht in Eigenzeit im Kopf, sondern erscheinen in rascher Folge, in unveränderlicher Geschwindigkeit vor unseren Augen. Zurückblättern, die Richtung ändern, eine Passage genau und wiederholt wahrnehmen, andere flüchtig querlesen oder überschlagen – das lässt der Film nicht zu. Die Kinosituation setzt unserem Rezeptionsverhalten, sogar unserer Körperhaltung enge Grenzen. Nebeneinander sitzend, gemeinsam dem Medium und der Öffentlichkeit seiner Darbietung ausgesetzt, verbindet die beiden Kinogänger tatsächlich zwangsläufig ein gemeinsames emotionales Erlebnis. Ein gemeinsames Lektüreerlebnis scheint es nicht geben zu können: Zu frei lässt das Printmedium seine Rezipienten über ihr Lektüretempo und die Pfade entscheiden, die sie durch die Textpassagen wählen. Aus der Hoheit über das Tempo gewinnen viele Filme ihr wichtigstes ästhetisches Stilmittel, denkt man an die rasante Geschwindigkeit von Lola rennt oder die berührende Langsamkeit, fast Bewegungslosigkeit des Dokumentarfilms Die große Stille.

Ein Paradebeispiel dafür, wie verschieden Buch und Film die gleiche Geschichte erzählen, ist die Verfilmung von Maurice Sendaks Bilderbuchklassiker Wo die wilden Kerle wohnen: Die Poesie des Bilderbuchs, das mit knappstem Text und statischen Bilder auskommt, wird auf der Leinwand zu einem abendfüllenden Spielfilm. Einen Zwischenschritt nimmt die Verwandlung der Geschichte dabei: Dave Eggers‘ Roman Bei den wilden Kerlen, der die Bilderbuch-Geschichte der des Drehbuchs schon deutlich ähnlicher macht.

Eines verbindet die zweisame Nutzung von audiovisuellen und von Printmedien dann doch: der Moment danach. Denn niemals verstehen zwei eine durch ein Medium vermittelte Botschaft gleich. Sobald der Abspann läuft, sind auch die beiden Kinogänger der Diskussion ausgesetzt. Denn auch wenn sie vorher wie in einer Laborsituation das gleiche Erlebnis teilten, nimmt doch jeder anders und anderes wahr. Ein wenig bleibt jedes Medium eben doch ein Spiegel, in dem der Nutzer sich selber begegnet.
Erwähnte Filme und Bücher zum Film

Der englische Patient, nach dem Roman von Michael Ondaatje (1996, Regie: Anthony Minghella)
Buddenbrooks, nach dem Roman von Thomas Mann (1923, Regie: Gerhard Lamprecht; 1959, Regie: Alfred Weidenmann; 1978, Regie: Franz Peter Wirth; 2008, Regie: Heinrich Breloer)
Effi Briest, nach dem Roman von Theodor Fontane (1939, Regie: Gustaf Gründgens; 1955/BRD, Regie: Rudolf Jugert; 1968/DDR, Regie: Wolfgang Luderer; 1974/BRD, Regie: Rainer Werner Fassbinder; 2009, Regie: Hermine Hundgeburth)
Der talentierte Mr. Ripley, nach dem Roman von Patricia Highsmith (1999, Regie: Anthony Minghella)
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, nach dem Roman von Milan Kundera (1988, Regie: Philip Kaufman)
Der seltsame Fall des Benjamin Button, nach dem Roman von F. Scott Fitzgerald (2008, Regie: David Fincher)
Das Orangenmädchen, nach dem Roman von Jostein Gaarder (2008, Regie: Eva Dahr)
Der Vorleser, nach dem Roman von Bernhard Schlink (2008, Regie: Stephen Daldry)
Mein Führer (Rowohlt 2007), zum Film von Dani Levy
Das Leben der Anderen (Suhrkamp 2007), zum Film von Florian Henckel von Donnersmarck
Die Manns über die Leben der Mitglieder Familie Mann (2001, Regie: Heinrich Breloer)
Bonjour Sagan über das Leben der Schriftstellerin (2008, Regie: Diane Kurys)
Sophie Scholl: Die letzten Tage (2005, Regie: Marc Rothemund, Drehbuch: Fred Breinersdorfer)
Paris was a woman (1996, Regie: Andrea Weiss)
Gomorrha, nach dem Sachbuch von Roberto Savianos (2008, Regie: Matteo Garrone)
Schmetterling und Taucherglocke, nach der Biographie von Jean-Domique Bauby (2007, Regie: Julian Schnabel)
Persepolis. Eine Kindheit im Iran, nach dem Comic von Marjane Satrapi (2007, Regie: Vincent Paronnaud, Marjane Satrapi)
Wo die wilden Kerle wohnen, nach dem gleichnamigen Bilderbuch von Maurice Sendak und dem Roman Bei den wilden Kerlen von Dave Eggers (Regie: Spike Jonze 2007, dt. 2009)

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