Lottagirls: Lesbische Mädchen und ihre Angst vor dem Coming Out

Von Susanne Krones (2002) – Zwei Orte wie ein Davor und ein Danach. Am U-Bahnhof »Viehofer Platz« laufen Fahrgäste zügig die Treppen hoch ins Freie. Unten zwischen den Gleisen bleibt ein Mädchen zurück. Kein Platz zum Aufhalten, sondern einer zum Ankommen und Abfahren. Drei Minuten vom U-Bahnhof im »Café Lotta« sind Wände und Decke sonnengelb und die blauen Sofas so voller junger Frauen, das heute sogar die Lehnen besetzt sind. Ein selbstgemachtes Getränk gibt es zu 50 Cent, im Hintergrund Musik und dass Mädchen hier Mädchen küssen ist ganz normal.

Das Mädchen am Viehofer Platz spürt den kalten Sog, als die Bahn im dunklen Schacht verschwindet und den Blick frei gibt auf die Mosaike an den Wänden des U-Bahnschachts. Sie liest den ersten der eingeschriebenen Sätze und kommt nicht davon los. Sie bleibt stehen. Es sieht aus, als warte sie auf den nächsten Zug – zurück. Vielleicht würde sie das gern. Denn der erste Schritt ist schwer. »Kultur schafft Kommunikation«heißt der Satz. Das hat sie noch nicht erlebt.

Denn sie kennt Birgit, Anne und die anderen noch nicht, die sich regelmäßig im »Café Lotta« treffen. Jugendliche, so die Sozialpädagogin Silvia Tiesler, sollen hier in einem Kreis von Gleichaltrigen  die eigene Homosexualität als Normalität erfahren können. Birgit ist eine der ältesten, sie ist 25 und neu in Essen. Mit 14 ist ihr zum ersten Mal bewusst geworden, dass sie Mädchen liebt, sie tat alles, um dagegen anzukommen. Mit 16 hatte sie ihren ersten  Freund und war ein halbes Jahr mit ihm zusammen: »Das war nicht toll und war nicht wichtig – es war halt in.« Erst mit 22 hatte sie die Kraft, den Gedanken zu Ende zu denken – und ging zum ersten Mal in eine Lesbengruppe.

Das Mädchen am Viehofer Platz liest sich weiter durch die Sätze: »Kultur trägt in sich innere geistige Geheimnisse.« Das erkennt sie wieder, ein Geheimnis trägt sie auch. Eine Bahn kommt an, Menschen steigen aus. Sie zählt die Frauen ab. Jede zehnte müsste fühlen wie sie. Trotzdem kennt sie keine. In der Schule outet sich niemand, nicht einmal hypothetisch: 90% der Schüler würden ihrer Klasse nicht mitteilen, wenn sie schwul oder lesbisch wären, nur in 20% der Fälle erleben Schüler, dass ihre Lehrer Mitschüler verteidigen, die zur Zielscheibe von Witz und Gewalt werden, so das Institut für Sozialpsychologie der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Homosexualität ist in Schulen kein Thema, obwohl homosexuelle Jugendliche eine Risikogruppe darstellen in Bezug auf Suchterkrankungen, Depressionen, körperliche Gewalt, Schulabbruch und familiäre Probleme. Das weiß das Mädchen aus der Zeitung, aber die hätte sie gar nicht gebraucht: Sie geht ja zur Schule.

Auch von den »Lottagirls« hat sich keine in der Schule geoutet: »Wenn du hörst, wie dort über Schwule und Lesben geredet wird, traust du dich das nie.« Julia Beekes (27), Sozialarbeiterin im »Café Lotta«, leistet mit dem Projekt »SchLAu-Ruhr« ehrenamtlich Aufklärungsarbeit an Schulen im Ruhrgebiet. Auf Anfrage stellt sie sich in einer Doppelstunde Biologie oder Religion den Fragen der Schüler oder gestaltet ganze Projekttage. Was sie erlebt hat, bestätigt die Statistiken: »Schwule Sau ist immer noch das beliebteste und häufigste Schimpfwort auf dem Schulhof.« Einmal hat sich ein Schüler während eines Besuchs zum ersten Mal geoutet: »Das war heftig – aber letztlich auch unser größter Erfolg.«

»Kultur und Organismus haben viel gemeinsam«, liest das Mädchen, das sich jetzt hingesetzt hat auf einen der harten Gitterstühle. Das fängt sie gerade an zu verstehen und auch deswegen hat sie sich auf einen Weg gemacht, der nicht einfach ist: auf den Weg nach draußen. Homosexuelle Jugendliche haben sechzehnmal häufiger Selbstmordgedanken als ihre Heterosexuelle ihrer Altersgruppe, jeder fünfte vollzieht den endgültigen Schritt. Diese Zahlen hat die Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport ermittelt.

Wie sehr die Menschen hinter den Zahlen leiden, davon haben die »Lottagirls« mittlerweile Ahnung bekommen. Sie wissen, dass die Strategien, die Frauen entwicklen, um zu verbergen und zu verdrängen, besonders destruktiv sein können: Anne ist 24, sie lebte fünf Jahre in einer Beziehung, war sogar verheiratet und hat einen dreijährigen Sohn. »Ich habe schwere Depressionen bekommen, mein Schlafzimmer nur noch verlassen, um mein Kind zu versorgen, war tablettenabhängig und essgestört.« Während sieben Wochen stationörer Behandlung und einem Jahr regelmäßiger Therapie hat sie begriffen, dass sich ihre Neigung nicht einfach so abstellen und verdrängen lässt. »Ich wollte der Rolle entsprechen, die die anderen für mich vorgesehen hatten. Ich konnte jeden Mann haben – wie sollte ich lesbisch sein?« Auch auf Druck ihrer griechischen Eltern, denen viel an den kulturellen Traditionen ihrer Heimat liegt, hat sich Anne entschieden zu heiraten; ihren Mann schätzt sie als Freund, hat ihn aber nie geliebt. »Ich dachte, ich kann dieses Leben trotzdem leben«. Sie hat lange gelitten, um heute sagen zu können: »Es zerstört dich, wenn du nicht deine Wahrheit lebst.«

»Kultur enthält die Wahrheit unserer Geschichte«, die Erfahrung wird das Mädchen noch machen. Im Luftzug des Schachtes wird es ihm zu kalt, es steht auf, läuft los. Die Schützenbahn hoch, in die Kleine Stoppenberger Straße. Da hat sie noch die falschen Bilder im Kopf von lesbischem Lebensgefühl und von Szene.

Wer hier ankommt, hat einen langen, harten Weg hinter sich. Die Medienrealität hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun: Wenn sich prominente Politiker sich heute offen outen können, die Vorabendserien Homosexualität als trendy und zeitgemäß präsentieren und gesetzliche Benachteiligung teilweise abgebaut wurde, macht das zwar Mut, ändert an den Diskriminierungen des Alltag nichts. Birgit hat ihre Stelle als Ergotherapeutin gewechselt, weil sie aus ihrer alten herausgemobbt worden ist »Wie kann man eine gute Therapeutin sein, wenn man selbst solche Probleme hat? Das war der Tenor.« Ihr Mutter war verzweifelt, als Birgit sich vor ihr geoutet hat: »Es war die typische Reaktion vieler Eltern: Was habe ich falsch gemacht?« Ihre Mutter hat den Kontakt nicht abgebrochen, aber Birgit zahlt einen hohen Preis: Auf Familienfeiern wird ihre Freundin nie dabei sein dürfen. »Viele stößt unsere Lebensweise noch immer ab.« Etliche Freundschaften sind zerbrochen, denn viele verstehen das Einfachste nicht: »Dass ich immer noch derselbe Mensch bin – ich hab ja immer so gefühlt.«

Das Mädchen ist mittlerweile die Schützenbahn hochgelaufen und biegt in die Kleine Stoppenberger Straße ein. Es sucht die grauen Häuserzeilen ab nach der 13. »Kultur ist Hoffnung auf eine bessere Zukunft«, der Satz aus dem Bahnschacht ist ihr noch im Kopf, und: »Kultur öffnet Perspektiven«. Von außen sieht das Lotta ziemlich schäbig aus, kaum zu finden Nur ein bedruckter Din-A4-Zettel an der Tür gibt einen Hinweis. Ob das Absicht ist?

Birgit genießt im Lotta, dass man sich hier nicht immer erklären muss, dass alle ähnliche Erfahrungen haben und vor allem: neue Kontakte suchen auf dem Weg aus der Isolation. »Von denen, die hierher kommen weiß ich zumindest: sie finden Frauen interessant, unabhängig davon, ob sie lesbisch sind, bi oder hetero.« Da geht die Tür auf und ein junges Mädchen betritt den Raum, noch einen Satz im Kopf, den sie auf dem Weg im U-Bahnhof aufgeschnappt hat: »Kultur bereichert die Menschen um Welten mehr.« Sie ist froh, dass sie da ist. Und die »Lottagirls« freuen sich auch.

Susanne Krones für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (April 2002)

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