Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus: Renate Kastl, Richterin im Ehrenamt, spricht als Jugendschöffin Recht

Die Gerechtigkeit hat viele Gesichter. Manchmal sind ihre Augen verbunden und sie hält zur Göttin vergoldet eine Waage in den Händen. Manchmal flimmert sie leuchtend rot über die Fernsehbildschirme, in einer der Roben der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts. Manchmal aber tritt sie stiller auf, im Rollkragenpullover und mit nachdenklichen Augen – wie denen von Renate Kastl, wenn sie von dem Besuch in der JVA Amberg zu Beginn ihrer Laufbahn als Schöffin erzählt: Von versperrten Zellen, vom Wachpersonal mit den übergroßen, klirrenden Schlüsselbünden. »Als wir die Justizvollzugsanstalt besucht haben, das war der deprimierendste Moment der ganzen Jahre – das hat mich nachdenklich gemacht, wie tiefgreifend unsere Entscheidungen sind.«

Renate Kastl, 52, ist Richterin ohne Robe. Sie ist keine ausgebildete Juristin, und entscheidet doch über Geld- und Freiheitsstrafen, Freispruch und Bewährung. Sechs Jahre ist sie ehrenamtlich als Schöffin tätig, seit zwei Jahren am Landgericht, zuvor vier Jahre am Amtsgericht Amberg. Zwei Jahre noch kann sie gleichberechtigt mit Berufsrichtern Urteil sprechen, dann ist der Zeitraum von acht Jahren ausgeschöpft, in dem sie als Bürgerin das Richteramt ausüben darf – und eine Nachfolgerin wird berufen.

»Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« So lautet Artikel 20,2 des Grundgesetzes, die Rechtsgrundlage für das Ehrenamt des Laienrichters. »Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.«

Die Justiz ist angewiesen auf die Mitarbeit von Laien, die ihre Lebens- und Berufserfahrung und ihr natürliches Rechtsempfinden zur Verfügung stellen. Natürlich sind die Schöffen dabei an Recht und Gesetz gebunden. Wie Berufsrichtern drohen ihnen schwere Strafen zu, wenn sie sich der Rechtsbeugung schuldig machen.

Kann sich ein Laie kompetent fühlen in einem so schwierigen Amt? »Das macht man mit seinem Innersten aus«, beschreibt Renate Kastl die oft komplexen Entscheidungsprozesse. Natürlich hat es eine Vorbereitung gegeben, doch das sind organisatorische Kleinigkeiten, vergleichen mit dem, was die Urteilsfindung in der Realität so schwierig macht: »Man weiß, die Strafe muss sein, aber wenn man dann die Umstände bedenkt, verschieben sich die Rollen von Opfer und Täter: Oft hat man das Gefühl, dass man die falschen bestraft.« Gerade dann, wenn Jugendliche vor Gericht stehen.

Die zwölf Termine, zu denen ein Schöffe pro Jahr Verhandlungen zu besuchen hat, werden zu Jahresanfang ausgelost. Renate Kastl ist zusätzlich zu den festen Schöffen als Hilfsschöffin eingesetzt: Sie wird bei außerordentlichen Verhandlungen herangezogen und springt ein, wenn ein anderer Schöffe kurzfristig ausfällt. Es kann passieren, dass sie angerufen wird und zwei Stunden später bei Gericht zu erscheinen hat: »Beim ersten Mal hat es mich sehr irritiert, so unvorbereitet im Gerichtssaal zu sitzen.« Mittlerweile ist das Routine.

Vor Beginn der Verhandlung weist der Richter die Schöffen kurz in den Fall ein. Sie hören dann die Hauptverhandlung und haben das Recht, eigene Fragen zu stellen. Nach Abschluss der Beweisaufnahme und Plädoyers ziehen sich Berufsrichter und Schöffen zur Beratung zurück. Über Schuldfrage und Rechtsfolgen der Tat ist mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen zu entscheiden, sonst mit absoluter Mehrheit. Die Stimmen von Berufsrichtern und Schöffen sind gleichwertig. Entsprechend sorgfältig wird die Auswahl der Schöffen vorgenommen: Der Gemeinderat muss der Vorschlagsliste zustimmen, bei Gericht achtet ein Wahlausschuss auf eine Auswahl, die den Durchschnitt der Bevölkerung spiegelt. Schöffen dürfen nicht vorbestraft und müssen volljährig sein. Wer gewählt ist, kann das Ehrenamt nicht ablehnen.

Renate Kastl, die seit 1970 als Dorfhelferin im Landkreis Amberg-Sulzbach berufstätig ist und selbst drei Kinder hat, hat sich besonders für das Amt der Jugendschöffin interessiert: »Ich denke mir immer, das ist die Zukunft unserer Gesellschaft. Außerdem glaube ich, dass man in diesem Bereich mit der Strafe noch mehr verändern kann.« Was die Bedeutung des Urteil und damit die Verantwortung nur größer werden lässt.

»Manche Fälle beschäftigen mich lange«, gesteht sie ein und denkt an den Verhandlungstag, als sie über eine Gruppe von Jugendlichen zu richten hatte, die nach einem Kinobesuch einen Jungen mit enormer Aggressivität niedergeschlagen hat: »Man fängt an, nachzudenken, wenn man eigene Kinder hat, die selbst oft in dieses Kino gehen.« Die Mischung aus Wut und Angst aber darf nicht mitentscheiden: Mit Freiheitsstrafen ist Renate Kastl bei Jugendlichen zurückhaltend, sondern setzt eher auf Eingliederung in Einrichtungen der Jugendhilfe. Es ist wichtig, dass man Betroffenen nicht alles entzieht.

»Am Anfang war ich erschrocken, was für eine Brutalität es auch bei uns auf dem Land gibt. Mittlerweile kann ich damit umgehen.« Sagt sie. Und fordert den oft zitierten Ruck, der endlich durch die Gesellschaft gehen müsste. Erklärungen und Entscheidungshilfen holt sie sich aus ihrer beruflichen Erfahrung in ihren Einsatzfamilien: »Viele können den Trend finanziell nicht mehr mitmachen, viele junge Leute sind nicht mehr in ein Umfeld integriert. Viele machen Erfahrungen nur noch aus zweiter Hand, im Fernsehen.« Und auf fast jede Argumentation fällt das Schattenwort Arbeitslosigkeit.

Schatten aus der Wirklichkeit, die im Kunstlicht der Rechtswissenschaft vielleicht überblendet würden.

Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus.

Da ist es gut und notwendig, dass die Gerechtigkeit auch ohne Robe vor Gericht erscheint. Etwa im Rollkragenpullover von Renate Kastl.

(erschienen 2005)

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