Ein Roman wie ein Kaleidoskop: Martin Mosebach, »Eine lange Nacht«

Manche Pläne scheitern, wenn man sie aussspricht. Ludwig Drais, der Held in Martin Mosebachs Roman »Eine lange Nacht« hatte am Bankschalter »so selbstgewiß sein erstes Referendarsgehalt angekündigt, daß die Dämonen aufwachten und das Examen durchkreuzten«. Planlos und irritiert findet er sich nach seinem erfolglosen Jura-Studium beruflich und privat in Lebensumständen wieder, die er so nicht geplant, nicht einmal angedacht hat: Ludwig versucht sich zuerst als Kunsthändler an einem unverkäuflich misslungenen Liebermann und steigt kurze Zeit später in die Geschäftsführung von »Nephew & Nephew« auf, einer Firma, die Billigtextilien aus Pakistan und kanadische Holzfällerhemden vertreibt.

Ludwig bewegt sich traumtänzerisch durch die neue Realität, als ob er noch nicht wirklich an sie glaubt. Während er in der Firma nur scheinbar selbstbewusst und kompetent agiert, zieht im Hintergrund seine Sekretärin Bella die Fäden, die er kurz vor ihrer Hochzeit mit Fidi Lopez selbst angeheuert hat. Ihre Souveränität nimmt Ludwig die Unisicherheit; als sie zum ersten Mal einige Tage nicht da ist, wird ihm bewusst, dass er sich seit langem zum ersten Mal nicht zielbewusst und in Eile bewegt: »›Ich bin wie ein Schuljunge, der glaubt nicht lernen zu müssen, weil die Lehrerin nicht kommt‹, dachte Ludwig. Die Straßen denen er folgte, lagen stets im Schatten. Wenn kein Schatten da war, änderte er seine Wegrichtung, auch wenn das einen Umweg bedeutete.« Bella und Fidi ziehen schließlich ins Souterrainzimmer unter Ludwigs Wohnung ein und okkupieren sein Leben und seine Gedanken beinah vollständig: »Die einzigen Menschen, mit denen ich mein Leben wirklich teile, sind Fidi und Bella Lopez, verirrte Motten, die mit weichen Flügelchen an das Fenster schlagen.« – und bei den Flügelchen denkt Ludwig schon an Bellas Haar und die Art, wie sie es kämmt. Er verliebt sich in sie und eine kompliziert unkomplizierte Dreiergeschichte entspinnt sich. Bella lebt tagsüber mit Ludwig, doch ihre Abende und Nächste teilt sie weiterhin mit Fidi; Ludwig bleibt nur der Blick ins Souterrainzimmer. »Ein Wettbewerb eigener Art war zwischen Bella und Ludwig entbrannt: wer früher zu lieben begonnen habe. Konnte man diese Frage eigentlich genau beantworten? Bella meinte, ja. Erst allmählich habe sie verstanden, daß das Gefechte waren, die in der Hoffnung zu verlieren geführt wurden. Dennoch fügten sie Schmerzen zu.« Irgendwann steigt Fidi nach einer mit Ludwig durchzechten Nacht betrunken ins Auto und verunglückt tödlich. »Was Ludwig störte, hörte einfach auf zu sein.« Wieder ergibt sich alles, ohne dass Ludwig agieren müsste.

»Eine lange Nacht« ist aber um einiges mehr als die Dreiecksgeschichte zwischen Bella, Ludwig und Fidi. In den fünf Kapitel des Romans erzählt Martin Mosebach von Krankheit und qualvollem Sterben, von Selbstmord und Tod, von der Verschiedenartigkeit der Beziehungen, in denen Menschen zusammenleben, von scheiternden Plänen, der Unmöglichkeit zu planen, überhaupt von der Eigendynamik des Lebens. In einer Reihe von Nebenfiguren und Nebenhandlungen, die alle ähnliche Konstellationen aufweisen – Dreiecksgeschichten wie die zwischen dem Anwalt, dessen Gattin und einem Bootsverleiher, die Ludwig noch in seiner Zeit als Kunsthändler kennenlernt, bei denen letztlich immer einer der drei aufgeben muss, wie der Bootsverleiher, der sich nach einer gemeinsamen Feier das Leben nimmt, wie Bellas Vater, der mit dem Kopf im Gasherd starb. Wie in einem Kaleidoskop schieben sich die Motive je nach Drehung, je nach Blickrichtung immer anders ineinander.

So schildert Mosebach den Tod von Ludwigs Vater, der seinem Sohn »das Sterben zeigt, wie er ihm das Laufen beigebracht hat«, minutiös und in ungewöhnlicher Intensität in einem breiten Strang von Nebenhandlung, flicht aber immer wieder auch in winzigen Details Todesmotive ein, wenn er etwa Ludwig »im Dunkeln, sehr gestreckt, geradezu aufgebahrt« liegen lässt, um Bella beim Schlafen nicht zu stören. Mit dem zweiten Motivfeld verfährt Mosebach genauso: Immer wieder tauchen Paare auf, die Ludwig sehr bewusst beobachtet,  die Twillebeeckx beispielsweise, die »ihre Ehe in ein Alter gerettet hatten, in dem man sich nicht mehr trennt, wenn die Illusionen erloschen sind«, die ihre Ehe besitzen, »wie sie ihr Haus, ihre Möbel und Bilder besitzen, ohne noch Freude daran zu empfinden«, noch ausgiebiger observiert er Fidi und Bella Lopez, wenn er am Fenster mit Blick nach unten über deren Ehe nachdenkt, bis Bella den roten Vorhang vor diesen »traulichen Guckkasten, den Rahmen dieser rührend ernsthaften, rührend naiven Kinderehe« schließt. Doch auch hier findet sich der Fokus auf das Motiv der Beziehung noch in kleinsten Details und Halbsätzen, etwa wenn Ludwig beim Kneipenbesuch aus dem Augenwinkel ein fremdes Pärchen am Nebentisch beobachtet.

Diese feine Art Architektur, die auch einem zweiten Lesen standhält, wird Mosebach niemand in Abrede stellen. Was das geteilte Echo unter Lesern und Kritiker hervorruft, spielt sich auf anderer Ebene ab: Auf der von Mosebachs Sprache, die seinen feinsinnigen Humor transportiert und vielleicht auch erst hervorbringt.  Einige werden es Mosebach übelnehmen, dass er schrecklich akademisch von »Parenthesen in Lebensläufen« spricht, oder dass er den Tod von Bellas Vater, der sich während des Schreibens an seiner Doktorarbeit selbst tötete,  als einen Triumph der Handlungstheorie verkauft (»Was geschieht, wenn ich meinen Kopfe in den Gasofen stecke und den Hahn aufdrehe?«). Andere werden darüber lachen. Wer sich wirklich auf den Roman einlässt, wird über diese Stellen nicht einmal stolpern – und wenn doch, braucht er nur das Kaleidoskop ein Stück weiterdrehen, ist der Roman doch zu Recht so angelegt –, sondern stößt auf eine Vielzahl wunderbar lebendiger und plastischer Sprachgebilde und Figuren. »Und tatsächlich sank er, kaum waren die Augen geschlossen, in einen tiefen, mit wattiger Schwärze angefüllten Schacht. Aus dem Dunkel kam ihm Bellas Gesicht entgegen.« So kommen dem Leser der »langen Nacht« alle Figuren entgegen, selbst Randfiguren, die ein, zwei Mal auftreten, scheinen vollständig ausgedacht und wirken ungemein real. Ein großes Buch also gerade in seinem Figurenreichtum, ein Buch wie ein Kaleidoskop, das eigentlich viele Bücher ist.

Ein großes Buch auch aus zwei anderen augenfälligen Gründen. Es sträubt sich mit seinen beinah sechshundert Seiten gegen das Normmaß des Buchmarkts. Und es erlaubt sich unzählige unauflösbare Sätze, wie sie wohl nur Literatur von Rang verträgt, ohne ins kitschig Beliebige zu kippen: »Vor schwachen Menschen müsse man sich in acht nehmen, starke seien ungefährlich, schwache blieben immer Sieger.« Oder: »Was man nicht zu verstehen braucht, versteht man oft allzu gut. Was ganz einfach zu sein scheint, ist oft weit davon entfernt, einfach zu sein.« Oder: »Jünger und älter sah Bella im Schlaf aus.« Ein Buch also, dem die Literaturkritik eigentlich dankbar sein sollte, dass sie sich einmal mehr mit Recht Literatur-Kritik nennen darf.

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