Wer ist Medea. Wer ist Medea nicht (2001)

 

 

Die Medea des Mythos hat bis in die Gegenwart zahlreiche Bearbeitungen erfahren – als Mörderin der eigenen Kinder und leidenschaftlich Liebende ging sie als eine der faszinierendsten und widersprüchlichsten Figuren in die Weltliteratur ein. Die Literaturkritik trennt scharf angemessene von unangemessenen Versionen der Medea. Was aber bedeutet Angemessenheit einer Figur, die es nie gegeben hat, ehe irgendeiner über sie schrieb?

 

I

 

»Christa Wolfs Heldin mag eine mutige und sympathische Frau aus dem Osten sein, eine Asylantin, der vom Gatten und den Gastgebern übel mitgespielt wird – eine Medea ist sie nicht.« schreibt Volker Hage im »Spiegel« vom 26.2.1996, und ich frage mich: Woher weiß er das. Woher will er wissen, was nicht zu wissen ist: Wer das ist. Medea.

Und weil ich nicht weiß, wohin sonst mit meiner Frage, stelle ich sie Medea selbst: Wenn es sie gäbe – wenn sie nicht nur eine Folie wäre, die man über Geschichten legt, eine Projektionsfläche, ein Punkt in der Tiefe der Zeit, an dem die Blicke vergangener und gegenwärtiger Künstler sich treffen – würde sie sich erkennen in dem Roman von Christa Wolf? In dieser Prosa, die ihr so entsetzlich sanft mit ihr umgeht?

Christa Wolf bettet Medea, die Wolf-Medea, ein in ein Geflecht von Figuren und Kommentaren, sie erfindet neue Handlungsstränge, lässt ihr Frauenfreundschaften, eine Mutterbeziehung, etwas wie Unschuld erfahren. Hat Medea, die Mythos-Medea, das gekannt? Von allem spricht sie sie frei: Die Morde, die ihr unterstellt werden, sind Gerüchte; ihr Bruder Absyrtos wurde vom Vater getötet, Glauke, die Rivalin,  begeht Selbstmord, Medeas Kinder lässt Wolf vom Pöbel steinigen. Hätte die Mythos-Medea diesen Freispruch gewollt, geduldet, hätte sie sich gewehrt? Das ist ja ihre größte Schwäche, dass sie sich nicht wehren kann. Medea ist den fremden Stimmen ausgeliefert, die sie aus ihrem eigenen Mund zum ersten Mal hört. Ich höre, was sie, wenn sie es könnte, Christa Wolf zu sagen hätte.

 

II

 

Nimmst du mir damit nicht, was ich bin. Sicher, den Kindermord hat Euripides erfunden, ein Triumph, auf dem Triumphe noch etwas bedeuten, schriebst du in dein Tagebuch, als du es herausfandest, ja das hat er, und ich habe nie verstanden, warum, aber was ich sonst tat, hättest du mir lassen müssen. Ich verstehe, wenn es dich so sehr abstieß, dass du es von dir werfen musstest, weil du nach so vielen Jahren die Gründe nicht mehr verstehst. Wie doch die Jahre die Gründe auswaschen, derer ich mir so sicher war, lässt du Medea sagen, dabei bist du die, die es erlebt. Von dem was ich erlebte, scheinst du nichts zu wissen, weißt du, was du mir nimmst, wenn du Glauke nicht in dem Giftkleid sterben lässt? Wo hab ich sonst meinen Schmerz um Jason hineingewebt, wenn nicht in dieses Kleid? Ach, ich vergaß: Die Wolf-Medea ging ja nicht wegen Jason nach Korinth, sondern wegen Kolchis, das werd ich dir nicht vergessen: Dass du mir Jason nimmst. Stattdessen lässt du mich Glauke die Wünsche von den Augen ablesen: Meinen Kopf lässt du mich in ihrem Schoß legen, weil sie es braucht, noch nie hatte ich jemand den Kopf in den Schoß gelegt. Soviel Menschenkenntnis hatte die Mythos-Medea nicht, dafür Leidenschaft. Du drehst das um. Vielleicht unterstellst du, mich zu spiegeln, aber du musst doch zugeben, dass der Mensch, der einem aus dem Spiegel ansieht, nur wenig zu tun hat mit dem, der man ist.

Doch es gibt da auch manches, in dem ich mich finde. Wenn Leukon mich beschreibt, dann bin ich das: Woran ich mich halte, ist die Überzeugung, das wir dem Gesetz nicht entgehen, das über uns genauso waltet wie über den Lauf der Gestirne. Was wir tun oder lassen, ändert nichts daran. Sie stemmt sich dagegen. Das wird sie vernichten. Das, ja, das bin ich. Die Mythos-Medea, die sich selbst vernichten muss, der es nicht frei steht, glücklich zu sein. Und wenn an einer anderen Stelle Oistros sagt – Weißt du, was als einziges dir geholfen hätte? Wenn du dich unsichtbar gemacht hättest, wie wir, Arethusa und ich. Im Verborgenen leben, kein Wort sagen, keine Miene verziehen, dann dulden sie dich. Oder vergessen dich. Das Beste, was dir passieren könnte. Aber das steht dir nicht frei. – dann bin ich das auch.

Auch in einem zweiten Sinn steht mir vieles nicht frei: Ich sagte mir, ich bin Medea, die Zauberin, wenn ihr es denn so wollt. Die Wilde, die Fremde. Ihr werdet mich nicht klein sehen. Ich, die große, wilde Frau bin in so vielem abhängig von euch, die ihr mich weiter denkt, und so oft mich verzerrt, verkehrt, verschwinden lasst. Nicht nur du.

Noch nie hat einer mich beschrieben, alle beschreiben immer nur sich selber, immerhin habe ich deine Medea verstehen können. Ich begriff, was sie meint, wenn sie von der Sehnsucht spricht, die sie packt, der Sehnsucht nach all den Tagen, die sie mir rauben werden. Nach all den Sonnenaufgängen. Nach den Mahlzeiten mit den Kindern, nach den Umarmungen mit Oistros, nach den Liedern, die Lyssa singt. Nach allen einfachen Freuden, die die einzig dauerhaften sind. Jetzt habe ich sie alle hinter mir gelassen.

Das hat noch keiner wissen wollen: Was in mir vorging, als ich mit diesem Drachenwagen zur Hölle oder zum Himmel fuhr. Da dachte ich noch, vielleicht verstehst du mich doch.

Aber warum, frage ich dann, schreibst du mir beide Männer zu? Ist das nicht etwas, was die Medea niemals könnte: Jason eine nachsichtige Geliebte und zugleich Oistros eine leidenschaftliche Liebhaberin sein? Ist Medea nicht die, die einen anderen, einen einzigen anderen haben will mit Haut und Haar und die ihm auch alles dafür hingibt – Haut und Haar und Heimat und Bruder?

Und auch die Stimmen: Traust du mir wirklich nicht. Denkst du, du müsstest mich verteidigen, ich bräuchte deine Hilfe, ohne die ich tausende von Jahren ausgekommen bin. Immer bestätigen sie nur meine Sicht der Dinge – die der Wolf-Medea: spinnen aus Machtgier Intrigen, streuen Gerüchte, stehlen sich aus der Verantwortung für ihr Unglück und stärken mit ihrem Verhalten immer nur Medeas Position. Ach, Jason, sagte sie. Soll ich dir auch noch ein gutes Gewissen verschaffen. Dabei wollte ich ihr nur erklären, wie alles gelaufen war und daß einer wie ich nichts machen konnte. Sie lachte auf. Einer wie du, sagte sie, dem man demnächst sie Tochter des Königs zur Frau geben wird. Aber das sag ich dir, tu der Glauke nichts an. Die liebt dich nämlich, und sie ist zart, sehr zart. Hältst du mich für so schwach, dass du auch noch in Jason mich verteidigt sehen willst. So ist er nicht gewesen, so abscheulich war er nicht, auch er hatte seine Gründe, wie jeder seine Gründe hat. Auch, was die Kinder betrifft – Tot. Sie haben sie ermordet. Gesteinigt, sagt Arinna. Und ich habe gedacht, ihre Rachsucht vergeht, wenn ich gehe. Ich habe sie nicht gekannt. – niemals könnte ich so sprechen. Vielleicht in deiner Zeit, aber die kenne ich nicht und dahin passe ich nicht, wie ich überhaupt keine Zeit wirklich kenne und dahin passe, und da sprech ich mit einem Mal doch als die, die du geschaffen hast: Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen könnte. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort. Trotzdem frage ich: Warum hast du mich in deine Zeit geholt, warum gerade mich. Du schreibst: Wohin man auch greifen wird auf dem scheinbar so »freien« Markt der Stoffe und Motive – es bleibt einem immer nur etwas im Kopf, in der Hand hängen, was diesen Kopf betrifft, wofür diese Hand gebildet ist.

Weißt du, was mir daran gefällt. Das: Wofür diese Hand gebildet ist. Nicht: Was für diese Hand gebildet ist. Du lässt mich vorher schon da sein. Du kommst danach. Deine Hand ist für den Stoff gebildet, nicht der Stoff für deine Hand. Aber ich frage mich: Warum soweit zurück. Manchmal hilft es ja, hunderte von Kilometern weit weg zu fahren oder hunderte von Jahren zurückzugehen, in eine Vergangenheit, die wir nur durch Sagen und Mythen kennen, um zu sehen, das man da findet – ohne sich darüber zu täuschen, daß man seine Reisegepäck immer bei sich haben, nie loswerden wird: sich selbst.

Dann bist du Medea, höre ich die Mythos-Medea fragen.

Ich selbst bin die Protagonistin, höre ich Christa Wolf.

Dann Schweigen.

 

III

 

Ein Schweigen, das nicht aufhört, und eine Frage: Wenn Christa Wolf mit der Stimme der Wolf-Medea spricht, mit wessen Stimme sprach eben Medea? Wessen Gespräch habe ich belauscht? Noch kann ich nicht antworten und muss an den wunderschönen Satz denken, den Christa Wolf der Glauke zugeschrieben hat, als sie verkleidet unter dem Tuch einer Dienstmagd zum Hafen schleicht – Ich kann ja kühn sein, wenn ich nicht Glauke bin. Da sehe auch Christa Wolf unter fremden Tüchern sich verstecken – unter dem der Medea, der Kassandra. Wer den Stoff zur Seite schiebt, um Medea, Kassandra zu sehen, findet auch Christa Wolf darunter. Nicht nur, natürlich, da ist viel anderes, aber eben auch. Und ich muss an all die anderen denken, die beteiligt sind am Versteckspiel Literatur – an die, die von einer Figur in die andere schlüpfen, und an die, die nicht müde werden, immer wieder die Tücher zur Seite zu ziehen, immer wieder gespannt, was sie finden werden, immer wieder auf die gleiche Weise erleichtert und enttäuscht: Nein, kein Mythos. Ein Mensch. Da höre ich auf zu schreiben, um das Tuch von meiner Medea zu ziehen.

 

Wer war Medea, ehe irgendeiner über sie schrieb? Die Frage, die Christa Wolf in ihren Frankfurter Vorlesungen an Kassandra stellte, wird auch Medea ihr nicht beantworten können.

Zu wenig weiß man von sich selbst.

Erstmals erschienen: »Wer ist Medea. Wer ist Medea nicht. Christa Wolfs Roman ›Medea.Stimmen‹«, in: FORUM 1/2001, S. 40f.

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