Bibliotheken nach Babel

»Bibliothek Suhrkamp«, »Die Andere Bibliothek«, »SZ-Bibliothek«. Schreiben Reihen, Editionen und Medienkooperationen die Literaturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts?

Vortrag beim 7. Symposium des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft in Kloster Seeon, »Bibliotheken nach Babel«, 8./9.7.2006

Bibliotheken nach Babel? Wenn man Bibliotheken, wie die Ausschreibung für das 7. Symposium des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft es tut, funktionsgeschichtlich als gesellschaftliche und kulturpolitische Akteure betrachtet, die unsere Vorstellung von ›Kanon‹, ›Leser‹, ›Bildung‹ und ›Text‹ wesentlich mitprägen, dann agieren die Bibliotheken nach Babel spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch auf dem Buchmarkt: Reihen wie die »Bibliothek Suhrkamp«, Editionen wie die im Eichborn Verlag von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene »Die Andere Bibliothek« gehören dazu – und die Namen, die Verleger und Herausgeber diesen Publikationsformen geben, zeugen bereits von deren Selbstverständnis. Das jüngste Phänomen, das insbesondere den italienischen und deutschen Buchmarkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägt, sind Medienkooperationen wie die »SZ-Bibliothek«, die »Bild-Bestseller-Bibliothek« und die »Brigitte-Edition«. Gerade am Beispiel der SZ-Bibliothek und ihrer Nachahmer zeigt sich: Medienkooperationen sind nicht nur ökonomisch erfolgreich, sie entwickeln auch in kultureller Hinsicht eine ungeahnte Breitenwirkung und haben jedes der geschichtlich variablen Konzepte ›Kanon‹, ›Leser‹, ›Bildung‹ und ›Text‹ auf ihre Weise neu akzentuiert: Die Bibliotheken, die – je nach dem – 50 bedeutende Romane des 20 Jahrhunderts, die Klassiker der Comic- oder der Management-Literatur verlegen, tragen entscheidend zur ›Kanonbildung‹ in ihrem Segment bei – einerseits, weil die Auswahl durch von einem breiten Publikum anerkannte Experten des jeweiligen Segments fundiert wird (für die Belletristik etwa die SZ-Feuilletonredaktion, Marcel Reich-Ranicki, Elke Heidenreich), andererseits, weil die Ausgaben der Bibliotheken durch ihre Ausstattung (hochwertige Hardcover in ausgezeichneter Gestaltung) und ihren Preis (meist um 4,95 EURO) außerhalb jeder Konkurrenz stehen. An ihren Auflagenhöhen lässt sich ablesen, dass diese Ausgaben von Eco, Boyle, Kundera, Updike und Tabucchi schon jetzt die privaten Bibliotheken und Bücherschränke gegenüber den jeweiligen Ausgaben der Original-verlage dominieren.
Den Bibliotheken ist noch mehr gelungen: Sie sprechen neue ›Leser‹ an. Unter den Käufern der SZ-Bibliothek etwa waren 9% erstmalige Belletristikkäufer und 3% erstmalige Buchkäufer, die Bild-Bestseller-Bibliothek erreichte gar 11% erstmalige Belletristik- und 13% erstmalige Buchkäufer. Damit tragen derartige Medienkooperationen zwischen Buch- und Zeitungsverlagen wesentlich dazu bei, ›literarische Bildung‹ zu verbreitern, allerdings um den Preis einer Verflachung und einer ausschließlichen Konzentration auf moderne Klassiker.
Denn die literarischen ›Texte‹ sind in dieser Situation Sieger und Verlierer zugleich: Bib-liotheken dieser Art publizieren nur Lizenzen, keine Originalausgaben, sie publizieren nur durchgesetzte Autoren, keine Debütanten oder Wiederentdeckungen.

Worauf gründet sich der immense Erfolg von Reihen, Editionen und Medienkooperationen? Und was bedeutet es für die Literaturgeschichtsschreibung und für die Literatur, die heute im Entstehen ist, wenn auf dem Markt die jüngste Vergangenheit derart dominiert? Der Vortrag stellt sich dem Phänomen der Bibliotheken auf dem Buchmarkt des 20. und 21. Jahrhunderts und versteht sich als buchwissenschaftlicher Beitrag zum interdisziplinären Diskussionsrahmen »Bibliotheken nach Babel« beim 7. Symposium des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaften.

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